Nintendo-Online LogoNintendo-Online.de
AccountSuchen
Placeholder image

Über ein Vierteljahrhundert nach seiner Veröffentlichung wirkt das Japano-Rollenspiel Mother“ heute kaum noch beachtenswert. Doch der Schein trügt. Hinter der unauffälligen 8-Bit-Fassade steckt nicht nur eine Persiflage auf die damaligen RPGs, sondern auch der erste große Genre-Ableger aus dem Hause Nintendo und zugleich das Videospieldebüt des bekannten japanischen Werbetexters Shigesato Itoi. Zudem ist „Mother“ der erste Teil einer Spielereihe, die in unseren Breiten eher als „EarthBound“ bekannt ist und eine ganz besondere Fangemeinde hat. Warum es das Spiel fast gar nicht gegeben hätte – und warum die schlussendlich nie erfolgte Veröffentlichung im Westen dafür fast real geworden wäre –, das erfahrt ihr in dieser Ausgabe von „Inside Nintendo“.

Image 69743


Der will nicht nur spielen


Shigesato Itoi, der Mann hinter der „EarthBound“-Reihe, ist uns in Europa höchstens als Spieledesigner bekannt, doch in Japan ist er eine waschechte Berühmtheit. Denn im Land der aufgehenden Sonne wirkte der 1948 geborene Itoi als Werbetexter. Richtig gelesen – in Europa mag es nur schwer vorstellbar sein, doch der gute Mann ist in Japan wirklich hauptsächlich wegen seiner Tätigkeit als Werbetexter ein Promi. Viele seiner Werbekampagnen haben nämlich das ganze Land bewegt. Darüber hinaus wirkt Itoi als freiberuflicher Autor und Betreiber des landesbekannten Blogs „Almost Daily Itoi News“; er hatte sogar bereits Auftritte als Synchronsprecher und Schauspieler!


Als Mann von Welt war Itoi in den 1980er Jahren natürlich ein Fan von Nintendos Famicom-Konsole. Das ging so weit, dass der Traum eines jeden spielebegeisterten Teenagers auch bald den fast 40-jährigen Werbetexter übermannte, sodass er ein eigenes Spiel entwickeln wollte. „Ich war wie besessen von 'Dragon Quest'“,
schrieb Itoi 1994. „Als ich all die Namen im Abspann sah, dachte ich, dass ich gerne auch meinen Namen dort sehen würde.“ Also begann er, Ideen für ein eigenes Videospiel zu sammeln – auch wenn er noch nicht wusste, wie dieses überhaupt entwickelt werden sollte.


Ihm schwebte eine Art Gegenentwurf zu den Rollenspielen der damaligen Zeit vor. Das Spiel sollte in der heutigen Welt handeln, so wie sie ist, ganz ohne Magie oder Schwertkampf. „Rollenspiele im mittelalterlichen Europa blühen derzeit auf“, dachte er sich. „Aber ich weiß nichts über das mittelalterliche Europa. Und ich glaube, das tut auch niemand anderes.“ Dem realistischen Setting entsprechend, sollte statt eines Helden ein schwaches Kind die Hauptrolle übernehmen.


Itoi trifft auf Miyamoto


Doch die große Frage blieb: Wie sollte Itoi diese Pläne verwirklichen? So einfach, wie die Spieleentwicklung in der heutigen Indie-Szene wirkt, war sie im Japan der 1980er Jahre nämlich nicht – besonders für einen branchenfremden Menschen wie Itoi.


Nun wurde Itoi zu dieser Zeit von Nintendo angeheuert, um an einer Marketingkampagne rund um das „Mario“-Franchise zu arbeiten. Diese Situation nutzte der scribophile Japaner, um dem Videospielkonzern seine Pläne zu präsentieren. Und tatsächlich wurde er an Nintendo-Mastermind Shigeru Miyamoto weitergeleitet – niemand Geringerem als den Schöpfer von „Super Mario Bros.“ und „The Legend of Zelda“.


Itoi hatte viel Zeit in sein Videospiel-Konzept investiert; das Ganze lag ihm sehr am Herzen. „Aber Miyamoto war kein bisschen daran interessiert“, schilderte er 1997. „Er nickte bloß und meinte, 'A-ha, a-ha', als würde er überhaupt nicht zuhören.“ Itoi hatte keine genaue Vorstellung, wie seine Pläne umgesetzt werden sollten, und so erteilte Miyamoto ihm eine Quasi-Absage.

Image 72885


„Mother“-Schöpfer Shigesato Itoi 2013 (Bildquelle)


Zusammenarbeit trotz gebrochenen Herzens


Itoi nahm sich diese Absage damals sehr zu Herzen. „Im Schnellzug nach Hause habe ich geweint“, erinnerte er sich 2000 zurück. „Ich wollte es nicht, aber es kam einfach raus. Und ich merkte, wie es sich anfühlt, komplett hilflos zu sein.“ Doch aus Miyamotos Perspektive erscheint die Absage fast schon notwendig: Nintendo erhielt damals ständig Spielvorschläge und -entwürfe von Außenstehenden, und allein auf Basis seiner Bekanntheit konnte der Konzern Itoi nicht zusagen. Prominenz ist eben kein Garant für Begabung. Miyamoto wollte sicherstellen, dass der Werbetexter wirklich bereit war, Mühe und Fleiß zu investieren, statt bloß von seinem Namen zu profitieren. Hinzu kam wohl auch, dass Miyamoto
Rollenspielen grundsätzlich eher abgeneigt ist.


Rückblickend zeigte Itoi Einsicht: „Egal wie genial eine Idee wirkt, sie ist bedeutungslos, wenn man sie nicht umsetzen kann. […] Ich war es [aber] von der Werbebranche gewohnt, mit einem Konzept zu starten.“ So kamen Itoi und Miyamoto doch noch auf einen gemeinsamen Nenner. Miyamoto erklärte: „Das zweite Mal, dass wir uns trafen, brachte ich einige Materialien aus der Spieleentwicklung mit und knallte den großen Stapel auf den Tisch, um ihm [Itoi, Anm. d. Red.] zu zeigen, wie viel Schreibarbeit nötig war. Drohend sagte ich ihm, er müsse mindestens genauso viel schreiben.“ Itoi war damit einverstanden; er war bereit, seine Arbeitszeit in der Werbeagentur zugunsten des Spieleprojekts etwas zu reduzieren.


Die Mütter und Väter von „Mother“


Schließlich erhielt Itoi von Miyamoto und Nintendo Grünes Licht für sein Projekt. Das war 1987. Seine ursprünglichen Pläne hat Itoi kaum abändern müssen. Etwa einen Monat dauerte es, bis Nintendo ein Team von Entwicklern zusammengestellt hatte. Doch das frisch formierte Team hatte zunächst kein Vertrauen in Itoi als Vorgesetzten. Dieser musste seinen Mitarbeitern erst beweisen, dass er es mit seinem Spiel wirklich ernst meinte und wie sehr es ihm am Herzen lag.


Für die Entwicklung des Spiels, das auf den Namen „Mother“ getauft wurde, tat sich Itois neues Unternehmen Ape mit der neugegründeten Abteilung Nintendo Tokyo R&D Products zusammen, die nach Abschluss der Arbeiten wieder aufgelöst wurde. Dem im Kern aus etwa zehn Personen bestehenden Entwicklerteam stand Itoi als Director, Game Designer und Autor von Szenario und Skript vor, während Miyamoto als Produzent die Produktion begleitete und leitete. Den markanten Soundtrack verfassten Keiichi Suzuki und Nintendos
Komponisten-Urgestein Hirokazu Tanaka.


Nach zwei Jahren Entwicklung erschien „Mother“ am 27. Juli 1989 in Japan für das Famicom. Es heißt, aus Zeitgründen habe das Team den letzten Teil des Spiels nicht mehr richtig ausbalancieren können. – Genaue Verkaufszahlen liegen zwar nicht vor, doch gerade im Vergleich zum damals dominierenden RPG „Dragon Quest“ war „Mother“ kein Erfolg. Dennoch plante Nintendo eine Veröffentlichung im Westen. So wurde das Spiel Ende 1990 unter dem Titel „EarthBound“ in der amerikanischen Zeitschrift Nintendo Power vorgestellt und etwa ein Jahr lang im Bereich der bald erscheinenden Spiele geführt. Zu der Veröffentlichung kam es jedoch nie.

Eingebundene Inhalte externer Webseiten werden nicht ohne deine Zustimmung automatisch geladen und dargestellt.

Durch Aktivieren der externen Inhalte erklärst du dich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden können.

Mehr Informationen findest du in unseren Datenschutzbestimmungen.


In diesem Video von 1989 stellt Itoi „Mother“ dem japanischen Markt vor.


„EarthBound“ oder „Mother Definitive Edition“


Produktanalyst Phil Sandhop von Nintendo of America (NoA) war damals verantwortlich für die Lokalisierung von „Mother“. Im September 1990 schloss er seine Arbeiten ab. Doch „EarthBound“, so der Name der lokalisierten NES-Fassung, war nicht bloß eine schlichte Übersetzung, vielmehr war es eine überarbeitete Version des Spiels. Das Entwicklerteam in Fernost hat extra für diese Fassung Programmierfehler ausgemerzt, die Städte umbenannt, einige Maps überarbeitet und eine überaus praktische Renn-Funktion eingebaut.


Zudem krempelten die Entwickler den letzten Teil des Spiels gehörig um und spendierten dem Ganzen sogar eine schlüssige Endsequenz, die die Handlung richtig abschließt. Das Ende des ursprünglichen japanischen „Mother“ ist also quasi unvollständig! Außerdem hat NoA die üblichen Anpassungen für den japanischen Markt alias Zensierungen vorgenommen: Religiöse Symbole wurden entfernt, die rauchende Krähe – einer von vielen kuriosen Gegnern in der Welt von „Mother“ – wurde jugendfreundlich gestaltet, und so weiter.

Was Amerika alles verpasste


„EarthBound“ war also in gewisser Weise die definitive Version von „Mother“. Hinzu kam eine 80-seitige Anleitung mit einem kleinen Handbuch, das die Übersetzer von NoA vorbereitet hatten. Darüber hinaus sollten dem Spiel zwei Poster beiliegen, und selbst eine Veröffentlichung des Soundtracks war im Gespräch. Doch das alles sollte nicht sein, denn „EarthBound“ kam nie in den Staaten heraus.


Sandhop zufolge war die Marketingabteilung bei NoA verantwortlich für diese Entscheidung. Nintendos neue Konsole, das SNES, stand kurz vor seinem Launch, und ein altbackenes Rollenspiel mit sterilster Grafik passte nicht mehr in den Katalog des Unternehmens. Deswegen wurde die Veröffentlichung des Spiels still und heimlich abgesagt.

Image 72886


„Herbst 1991“. Da lag die Nintendo Power leicht daneben.


Nicht abgebrochen, sondern nie veröffentlicht


Dabei war „EarthBound“, abgesehen vom letzten Feinschliff wie der Korrektur von Rechtschreibfehlern, fertig entwickelt worden. Das Spiel und sein Begleitmaterial haben quasi nur noch darauf gewartet, herausgegeben und ausgeliefert zu werden.


Jedoch muss dazugesagt werden, dass „EarthBound“ nicht abgebrochen worden ist. Denn die Fassung des Spiels war ja bereits fertig entwickelt worden, bloß zögerte NoA die Markteinführung hinaus. „'EarthBound' wurde nicht gecancelt“, erklärte Sandhop, „es wurde nur nicht produziert. Wie ein Film, der bereits bearbeitet wurde und nur noch darauf wartet, kopiert und zusammen mit einer Marketingkampagne in die Kinos geschickt zu werden. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Studio denkt, es sei der richtige Zeitpunkt.“ Dieser Zeitpunkt kam im Falle von „EarthBound“ nie.


Wie es „Mother“ doch noch in den Westen schaffte


Doch die unveröffentlichte westliche Version von „Mother“ blieb der Öffentlichkeit nicht ewig vorenthalten – 1998 gelangte ein Prototyp der NES-Fassung in die Hände der Fangemeinde. Trotz manch vehementem Skeptiker gilt die Authentizität dieses Moduls heute allgemein als bestätigt. Nachdem die Fans die Daten von dem Modul extrahiert und die komplexen Kopierschutz-Mechanismen ausgehebelt hatten, vertrieben sie das ROM im Internet, wo es seitdem unter dem Namen „EarthBound Zero“ kursiert.


2003 veröffentlichte Nintendo für den Game Boy Advance die Spielesammlung „Mother 1+2“. Die hier enthaltene Version von „Mother“ umfasst sämtliche Inhalte, die die unveröffentlichte lokalisierte Version einführte, also etwa die praktische Rennfunktion. Doch auch „Mother 1+2“ erschien nur in Japan. Jahrelang blieb das, ähm, semi-legale „EarthBound Zero“ also die einzige Chance für Fans, die des Japanischen nicht mächtig waren.


Erst 2015 erbarmte sich Nintendo der westlichen Fans des Originalspiels und veröffentlichte es als „EarthBound Beginnings“ im eShop der Wii U. Dabei handelt es sich exakt um dieselbe Fassung, die Nintendo 1990 dem Markt vorenthielt und die dem „Zero“-ROM zugrunde lag.

Image 72883


Soviel also zur Geschichte hinter „Mother“ beziehungsweise „EarthBound Beginnings“. Fast drei Jahrzehnte, nachdem Shigesato Itoi das Konzept hinter dem Spiel zusammenstellte, ist es erstmals – offiziell – bei uns im Westen angekommen. In
unserem Test verliehen wir dem Spiel sieben Punkte, denn einerseits ist die Grafik selbst für NES-Verhältnisse schwach, während das Spiel an sich schlecht gealtert und noch schlechter ausbalanciert ist. Andererseits ist „EarthBound Beginnings“, so man sich darauf einlässt, dank des einmaligen Szenarios von Shigesato Itoi ein unvergessliches Erlebnis.


Die zugrundeliegenden Informationen sowie, wenn nicht anders angegeben, die verwendeten Zitate stammen aus folgenden Quellen: Interview mit Shigesato Itoi, 1989 (Übersetzung bei Shmuplations) The 64DREAM: Interview mit Shigesato Itoi und Shigeru Miyamoto, Dezember 1997 (Übersetzung bei Yomuka!); Offizielle Mitteilung zur Einstellung von „EarthBound 64“ von Shigesato Itoi, Shigeru Miyamoto und Satoru Iwata, 22. August 2000, 1101.com (Übersetzung bei Yomuka!); Jonathan Wirth: Spotlight: EarthBound (Reportage über die Lokalisierung von „Mother“ und die Geschichte von „EarthBound Zero“), Lost Levels, Juli 2004


In unserer jeden zweiten Sonntag erscheinenden Rubrik „Inside Nintendo“ berichten wir über die Geschichten hinter Spielen, Serien, Konsolen, Studios und Personen rund um Nintendo. Eine Übersicht aller bislang veröffentlichten Ausgaben ist unter diesem Link zu finden.