Nintendo-Online LogoNintendo-Online.de
AccountSuchen
Placeholder image

Videospiele, die angekündigt aber nie veröffentlicht wurden, üben eine besondere Faszination auf uns aus. Als bekannte Beispiele aus dem Hause Nintendo seien etwa Star Fox 2“, „Ura Zelda“ oder „Super Mario 128“ genannt. Besonders interessant wird es bei Spielen mit ungewöhnlichem Konzept und/oder von bekannten Entwicklern – ein aktuelles Beispiel ist „Silent Hills“, wozu sich „Metal Gear“-Schöpfer Hideo Kojima mit Regisseur Guillermo del Toro zusammentun wollte.

Ein besonders mysteriöses Nintendo-Projekt hört auf den Namen „Cabbage“. Der Titel – „Weißkohl“?! – klingt erst einmal wenig interessant; aufhorchen lassen das Spielkonzept und die Namen der beteiligten Entwickler: „EarthBound“-Schöpfer Shigesato Itoi, „Pokémon“-Produzent Tsunekazu Ishihara, Shigeru Miyamoto, der keiner Vorstellung bedarf, und Programmier-Genie Satoru Iwata. Doch dieses Gemeinschaftsprojekt von vier der begabtesten und bekanntesten Nintendo-Entwickler kam nie auf den Markt. Warum ist das so, und was steckte wirklich hinter dem Spiel? Wir begeben uns auf die Spuren von „Cabbage“!

Image 79630

Nein, in dem Spiel sollte es nicht um Weißkohl gehen. „Cabbage“ sollte eine Haustiersimulation werden. Mangels Screenshots bleibt uns aber kein anderes Bildmotiv übrig.

Eine Haustiersimulation für das N64

Hinter „Cabbage“ verbirgt sich eine geplante Haustiersimulation für das N64 Disc Drive, die erfolglose Disketten-Peripherie für das N64 (mehr dazu in Ausgabe 84). Spieler sollten sich um ein virtuelles Haustier namens Cabbage kümmern, es füttern, mit ihm spielen, ihm Gegenstände kaufen, es aufziehen. Was für ein Geschöpf „Cabbage“ sein sollte, hat Nintendo nie spezifiziert. Einen Kohlkopf als Haustier halten wir jedenfalls für sehr unwahrscheinlich.

Das Spiel sollte Gebrauch von den exklusiven Funktionen des N64 DD machen. Eines davon ist die für damalige Spielekonsolen innovative interne Echtzeit-Uhr. Shigeru Miyamoto erklärte, wie diese in „Cabbage“ zum Einsatz kommen sollte: „Die Kreatur kann sich entwickeln und verändern, selbst wenn man nicht spielt. Man kann für ein paar Stunden weggehen, und wenn man zurückkommt, merkt man, dass sich das Wesen komplett verändert hat.“

Crossplay zwischen N64 und Game Boy

Dank des N64 Transfer Pak, das auch in den „Pokémon Stadium“-Spielen zum Einsatz kommt, sollten Spieler von „Cabbage“ ihr virtuelles Haustier vom N64 DD auf den Game Boy übertragen können. „Zwangsläufig müssen Spieler das Haus verlassen. Damit Cabbage nicht vernachlässigt wird, kann ein Game-Boy-Modul als eine Art Körbchen benutzt werden“, erklärte Miyamoto. „Man kann Cabbage in sein Körbchen bringen und mit sich nehmen; [auch] auf dem Game Boy lassen sich alle seine Wünsche erfüllen. Wenn man nach Hause kommt, kann man es wieder zurück in seine virtuelle Welt übertragen.“ Damit nicht genug, sollte das Haustierchen sogar in die Welten anderer Spieler transferiert werden können.

Aber wie das Ganze konkret aussehen sollte, ist völlig unklar. Nintendo hat nie Material zu „Cabbage“ veröffentlicht, nicht einmal einen Screenshot. Mehr als ein Minispiel im Stile der damals sehr beliebten Tamagotchis kann auf dem antiken Handheld kaum möglich gewesen sein. „Natürlich wird der Bildschirm anders aussehen als in der N64-DD-Version“, äußerte Miyamoto diesbezüglich Ende 1997, „darum denke ich, dass wir die Kreatur mit Icons darstellen werden.“ Alle weiteren Fragen blieben offen: Hätte die Game-Boy-Version separat gespielt werden können? Wären beide Versionen des Spiels zusammen erhältlich gewesen? Wir wissen es nicht!

Image 76729

Das N64 Transfer Pak wird in den Expansion Port des Controllers gesteckt. Dadurch ist es möglich, Daten von Game-Boy-Spielen auf das N64 zu übertragen und umgekehrt.

Schon immer der Zeit voraus: Cabbage und der DLC-Wahn

Echtzeit-Uhr und Game-Boy-Kompatibilität waren aber noch nicht alles, denn Nintendo plante sogar, käufliche Erweiterungen für das Spiel anzubieten. „Wenn ‚Cabbage‘ erschienen ist, werden zusätzliche Disks erscheinen, die Schaukeln, Rutschen, Teiche und Weiteres beinhalten, mit dem die eigene Kreatur spielen kann“, schilderte Miyamoto. Neben Spielzeugen sollten auch spezielle Veranstaltungen für das Spiel käuflich erwerbbar sein. Darunter dürften wohl Abenteuer- oder vielleicht sogar Story-Missionen zu verstehen sein.

Bezüglich der Frage, ob die Daten via N64-DD- oder GB-Modulen verkauft werden sollten, hat Miyamoto widersprüchliche Angaben gemacht. Das Disc Drive war sogar mit dem Internet kompatibel und hätte damit theoretisch waschechten DLC (Downloadable Content) bieten können, aber das scheint Nintendo nicht geplant zu haben. Die Erweiterungsdaten hätten offenbar ausschließlich in kleinen Läden wie Tankstellen oder Kiosken verkauft werden sollen.

Möglich waren die Erweiterungen jedenfalls dank der (wieder-)beschreibbaren Magnet-Module des Disc Drive – also ein weiteres Feature der obskuren Peripherie, das „Cabbage“ sich zunutze machen sollte. „Man könnte sogar die beschreibbaren Disks nutzen, um ‚Cabbage‘-Spielzeuge mit seinen Freunden zu tauschen“, schlug Miyamoto vor: DLC, den man mit anderen teilen kann – diese Idee sollte die heutige Videospielindustrie unbedingt aufgreifen, finden wir!

Das Dreamteam hinter Cabbage

Hinter der innovativen Haustiersimulation „Cabbage“ steckte „Mother“-/„EarthBound“-Schöpfer Shigesato Itoi. Er arbeitete damals außerdem an „Mother 3“ und an der Angelsimulation „Itoi Shigesato no Bass Tsuri No. 1“ (wir berichteten). Entwickelt wurde „Cabbage“ vom Studio HAL Laboratory, das neben „Kirby“ und „Super Smash Bros.“ auch die „EarthBound“-Reihe zu ihrem Portfolio zählt. Shigeru Miyamoto, der als Produzent für Itois Spiele fungierte, hatte ebenfalls eine wichtige Funktion bei „Cabbage“ inne.

Der dritte große Name, der mit „Cabbage“ verbunden ist, lautet Tsunekazu Ishihara. Dabei handelt es sich um den Produzenten der „Pokémon“-Spiele. Was er mit dem Projekt zu tun hatte, ist weniger offensichtlich. Doch ein Blick in seinen Lebenslauf zeigt, dass er einer der Produzenten von Itois „EarthBound“ war.

Image 73195

Shigesato Itoi, Satoru Iwata und Shigeru Miyamoto sowie Tsunekazu Ishihara sind die einzigen bekannten Entwickler von „Cabbage“. Sie arbeiteten auch an „EarthBound“ zusammen – Itoi als Director, Iwata als Programmierer, Miyamoto und Ishihara als Produzenten. Ähnliche Aufgaben werden sie auch für „Cabbage“ gehabt haben. Die Fotos zeigen Itoi, Iwata und Miyamoto, die auch privat befreundet waren, im August 2000. (Bilderquelle)

Die Wahrheit über das Dreamteam

Miyamoto und Ishihara waren also höchstwahrscheinlich Produzenten von „Cabbage“. Inwieweit sie zum tatsächlichen Design des Spiels beitrugen, ist nicht bekannt. Bei Miyamoto ist denkbar, dass er Ideen zur innovativen Nutzung des N64 DD in das Projekt einbrachte, doch steht er unzähligen Videospielprojekten mit Rat und Tat zur Seite. Man sollte „Cabbage“ also, will man der vorliegenden Evidenz folgen, als Projekt von Shigesato Itoi betrachten. Die häufig anzutreffende Behauptung, „Cabbage“ sei ein Gemeinschaftswerk von Miyamoto, Ishihara und Itoi, erweist sich damit als irreführend.

Diese Feststellung schmälert den Wert des Spiels aber keineswegs, wo doch „Cabbage“ zu den wenigen Projekten zählt, die der begabte Itoi während seines Ausflugs in die Spielebranche anging. Wie von Itoi gewohnt, klingt das Konzept hinter „Cabbage“ sehr innovativ und ambitioniert. Doch was geschah damals hinter den Kulissen des Projektes? Warum kam das Spiel nie heraus, weshalb gibt es kein Material dazu, was ist daraus geworden?

Nicht einmal der Name stand fest

„Cabbage“ war auf der Nintendo Space World 1997 unter seinem japanischen Namen „Kyabetsu“ angekündigt worden – freilich ohne jegliches Bildmaterial. Zu den Anfängen des Projektes äußerte sein Designer Itoi: „Es gibt so viele Ideen, auf die ich ohne des N64 DD nicht gekommen wäre – einschließlich des Spiels ‚Cabbage‘“. Der finale Titel des Spiels sei noch unklar: „Er steht noch nicht fest. Aber der Name ‚Cabbage‘ ist seltsamerweise beliebt. (lacht) Es ist einfach etwas, das zufällig aus mir herausgeplatzt ist. […] Ich denke jetzt, ‚Cabbage‘ wäre [als Titel] ganz in Ordnung. Es ist nämlich nicht so, als ob viele andere Namen zur Auswahl stünden.“

In diesem Zitat klingt Itoi reichlich planlos, und auch aus unseren obigen Ausführungen zum Spiel wird klar: Die Entwickler hatten vor allem große Ideen, aber zur Ausführung scheint man sich nicht viele Gedanken gemacht zu haben. Denn wie oft haben wir in diesem Bericht die Phrasen „unbekannt“, „unklar“ oder „wir wissen es nicht“ verwendet?! Die Informationspolitik bezüglich „Cabbage“ war also katastrophal – andererseits hat Nintendo gerade in der N64-Ära häufig unklare bis widersprüchliche Angaben gemacht.

Image 76730

Der mutmaßliche „Cabbage“-Produzent Tsunekazu Ishihara (hier ein aktuelles Bild von 2016) wirkte auch an „EarthBound“ und „Pokémon“ mit. Heute fungiert er als Präsident von The Pokémon Company.

Große Töne, doch nichts dahinter?

Wie es scheint, befand sich das Spiel zu seiner Ankündigung noch in einer frühen Entwicklungsphase. Denn Itoi erklärte Ende 1997, dass HAL-Präsident und „EarthBound“-Programmierer Satoru Iwata dem Projekt zugestoßen sei und sich um die Neuprogrammierung der Entwicklertools kümmere. „Es sieht also so aus, als werde dieser Teil bald fertig sein, und dann ist da das Team, das die Spezifikationen festlegt. Wir sind gerade mitten dabei, beides zu verknüpfen. Es bewegt sich also alles voran.“

Zudem entstehe „Cabbage“ ohne Genehmigung und Kontrolle des damaligen Nintendo-Präsidenten Hiroshi Yamauchi – also war es ein Projekt, an dem sich die Entwickler frei austoben konnten. Das Spiel werde man wohl nicht vor Anfang 1998 der Öffentlichkeit zeigen, erklärte Itoi. Folgt man seiner Aussage, waren damals weder die Entwicklungstools noch die Projektspezifikationen final. Itoi und Co. scheinen viel geplant zu haben, mit der Umsetzung der Pläne aber noch nicht richtig begonnen zu haben. Das Ganze bereits der Öffentlichkeit vorzustellen, sollte sich als wenig sinnvoll erweisen.

Cabbage in der Entwicklungshölle?

So strichen die Monate ins Land, ohne dass neue Informationen zum Spiel durchdrangen. Zweieinhalb Jahre später, im April 2000, war „Cabbage“ immer noch nicht vorgestellt worden. Itoi äußerte damals, er suche noch immer nach einer „aufbrausenden“ Idee für das Spiel, besonders für dessen Grafik. Das klang nicht nach einem Spiel, dessen Entwicklung problemlos läuft – tatsächlich zweifeln wir, dass das Spiel überhaupt über die Planungsphase hinausgekommen ist. Zumindest aber versicherte Itoi damals, das Thema des Spiels werde sich nicht mehr ändern. Na immerhin.

Nun hieß es, „Cabbage“ solle auf der Nintendo Space World 2000 gezeigt werden, doch auch dies geschah nicht. Tatsächlich sollte das Spiel niemals wieder auftauchen. Im August 2000 war Itois „Mother 3“ abgebrochen worden, wozu ein langes Gespräch zwischen Itoi, Miyamoto und Iwata veröffentlicht wurde, in welchem das Stichwort „Cabbage“ aber kein einziges Mal fiel. Dass das N64 DD, für das „Cabbage“ entwickelt wurde, erst 1999 erschien und sich als Totgeburt erwies, wird dem Projekt auch kaum geholfen haben. „Cabbage“ war still und heimlich auf Eis gelegt worden, und wie weit das Projekt bis dahin wirklich gekommen war, wissen wir nicht.

Image 76728

Das nur in Japan veröffentlichte Disc Drive wird unter dem N64 angeschlossen.

Kohlkopf auf Eis gelegt

Im August 2006 führte das japanische Magazin Nintendo Dream ein besonderes Interview mit Miyamoto. Es fragte den „Mario“-Meister über eine Reihe von Spielen aus, die nie auf den Markt kamen – darunter auch „Cabbage“, von dem man seit 2000 nichts mehr gehört hatte. Miyamoto antwortete lachend: „Wir haben vor sechs Jahren immer noch daran gearbeitet?“ Itoi und Ishihara hätten keine Zeit mehr für das Projekt gehabt, merkte er knapp an.

Tatsächlich: Nach der Einstellung von „Mother 3“ zog sich Itoi als Spieldesigner zurück und Ishihara hatte mit dem „Pokémon“-Phänomen und als Präsident von The Pokémon Company alle Hände voll zu tun. Auch Iwata hatte ab 2000 kaum noch Zeit für die Spieleentwicklung, weil er als Unternehmensplaner im Nintendo-Konzern zu arbeiten begann, und Shigeru Miyamoto ist bekanntlich stets mit einer Vielzahl von Projekten beschäftigt.

Also das Ende der Fahnenstange? Nicht ganz, denn Miyamoto erklärte in jenem Interview von 2006 auch, dass Teile aus der Entwicklung von „Cabbage“ in andere Nintendo-Projekte eingeflossen seien. Konkret benannte er die erfolgreiche DS-Haustiersimulation „Nintendogs“; vielleicht hatte er auch die Lebenssimulation „Animal Crossing“ im Sinn.

Fazit

„Cabbage“ war unterm Strich eine innovative und ambitionierte Spielidee – offenbar aber zu innovativ und ambitioniert, so wie auch „Mother 3“. Die Entwicklung der Haustiersimulation schlief ein, ohne dass wir sie je gesehen hätten. Die versprochenen Konzepte klingen aber noch heute interessant, und ein Blick auf „Nintendogs“ zeigt, dass längst nicht alle Ideen aus „Cabbage“ tatsächlich in andere Spiele eingegangen ist.

„Cabbage“ bleibt also eines der mysteriösesten Nintendo-Projekte. Dass das vermeintliche Traumprojekt in keinem der zahlreichen „Iwata-fragt“-Interviews Erwähnung fand, lässt uns befürchten, dass wir nie weitere Einzelheiten über das Spiel erfahren werden. Anders als „Super Mario 128“, „Mother 3“ oder „Stage Debut“, die schließlich wenn auch in anderer Form auf den Markt kamen, wird „Cabbage“ verschollen bleiben.

Quellen (Inhalt und Zitate): Miyamoto's Cabbage: Interview mit Shigeru Miyamoto im Official Nintendo Magazine; IGN: Miyamoto Meets N64.com, 25. November 1997; IGN: 64DD Pet Projects, 10. Dezember 1997; The 64DREAM – December 1997 Interview: Shigesato Itoi and Shigeru Miyamoto Discuss the Nintendo 64DD (Übersetzung bei Yomuka!); IGN: Nintendo Still Cooking Cabbage, 4. April 2000; IGN: Miyamoto Opens the Vault, 21. August 2006

In unserer jeden zweiten Sonntag erscheinenden Rubrik „Inside Nintendo“ berichten wir über die Geschichten hinter Spielen, Serien, Konsolen, Studios und Personen rund um Nintendo. Eine Übersicht aller bislang veröffentlichten Ausgaben ist unter diesem Link zu finden.